Was ist Poesie?
Was ist Poesie?
Die Poesie, bzw. "die Dichtung" ist ein Begriff aus dem Griechischen und bezeichnet die Kunstart, die mit Phantasie die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache einsetzt, um dem Zuhörer oder Leser Lebens-, Welterfahrungen und -deutungen näher zu bringen.
In ihren Anfängen vermittelte die Poesie hauptsächlich auf rhythmisch bildhafte Weise religiöse und mythische Glaubensinhalte wie beispielsweise im Gilgamesch-Epos oder in den Psalmen. Schon vom Beginn der menschlichen Kultur an sind die Hymne, das Gebet, der mythisch-epische Bericht, das Preislied und der Spruch als poetischer Ausdruck überliefert. Die Poesie verwendet in der Sprache eine äußere und innere Form und unterscheidet sich so von der Prosa der Alltagssprache. Als Kunstmittel für die Formgebung gebraucht die Poesie Rhythmus, Metrum, Reim (Stabreim und Endreim), Strophenbildung, Parallelismus der Satzglieder, kühne und freie Satzgestaltung und zudem hauptsächlich symbolische Aussagen wie Umschreibungen, Bilder, Gleichnisse und Metaphern. Stärker als die übrigen Künste richtet sich die Poesie an Geist und Seele des Menschen, um Emotionen hervorzulocken, die Phantasie bei HörerInnen oder LeserInnen zu fördern, an ihre Seelen zu rühren und sie zu verwandeln.
Die Sprache verfügt ohnehin über eine Fülle an Sinn- und Deutungsbezügen. Mit ihrem Klang, dem Reichtum an Bildern, Anschauungen und Vorstellungen, dem unendlichen Erkenntnisvorrat lässt sich jedes Thema poetisch bearbeiten. Durch die Poesie wird die Sprache neu belebt, mit ihr experimentiert (wie zur Zeit des Dadaismus oder in der Moderne) oder wie durch die großen klassischen Dichter und ihren sprachästhetischen Leistungen zum jeweils epochalen oder nationalen Ausdruck. Thematisch wendet sich die Poesie neben den Grundmotiven Liebe und Tod den jeweils gültigen Menschheitsfragen zu. Durch Aufstellung großer leitbildhafter Normen versucht die Poesie, den Menschen eine gültige und verbindliche Antwort des Lebens zu geben (so im germanischen Heldenlied, der nordischen Saga, dem höfischen Epos, der Barocktragödie oder in der deutschen Klassik). Unabhängig vom Entstehungszeitpunkt der Werke überdauern diese in ihrer poetischen Höchstform Zeiten und Kulturen und erhalten damit eine Allgemeingültigkeit und Aktualität.
Auch die anspruchsvollsten poetische Werke besitzen Elemente der Unterhaltung und dienen ebenso dem Vergnügen, denn der Stoff soll das Publikum angenehm fesseln und sie aus den realen Zwängen und Beschränkungen vorübergehend befreien.
In der weniger qualitätsreichen Literatur kann sich die Aufgabe der Unterhaltung und Zerstreuung selbständig machen. Dichtung wird dann zum bloßen Mittel der Ablenkung und Betäubung (Kitsch- oder Groschenroman, die sogenannte Schundliteratur), in der sentimentale und sensationelle Reize ausgeschlachtet werden.
Es gibt drei großen Grundgattungen der Poesie: Die Lyrik, die Epik und das Drama (Schauspiel). Mit der zunehmenden Verweltlichung der Kultur wurde auch die Prosa wie der spätantike Prosaroman, die Romane und Erzählungen der Moderne als Darstellungsform einbezogen und dienten zunehmend der Unterhaltung und Zerstreuung. Damit galten nicht nur die DichterInnen als SchöpferInnen poetischer Kunstwerke sondern auch die SchriftstellerInnen.
Die Poesie kann ihrem Wesen nach bestimmt werden:
1.) als Nachahmung (Mimesis) wie schon Aristoteles in seiner "Poetik" beschrieb. Dabei kann Nachahmung zum einen als realistische Abbildung der Wirklichkeit (Horaz "Ars poetica") verstanden werden und zum anderen als Nachahmung der wesenhaften Wirklichkeit (der Wahrheit) des Seins. Danach sind es nicht die äußeren Realitäten und Tatsachen, sondern die ideellen (ethischen und metaphysischen) Werte des Lebens, die sich in den symboltragenden poetischen Schöpfungen darstellen. Diese Auffassung herrschte von Aristoteles bis zu Goethe, den Romantikern und Hebbel vor.
2.) als Ausdruck innerer Erfahrung und Erlebnisse des dichtenden Individuums (Goethes Bezeichnung seiner Poesie als "große Konfession"). Diese Auffassung vertraten in Deutschland insbesondere Herder, der junge Goethe und die Dichter des Sturm und Drang. Dilthey erneuert diese Theorie im 19. Jh. in seiner Abhandlung "Das Erlebnis und die Dichtung", 1905. Poesie kann hier verstanden werden als Ausdruck eines Individuums, als Ausdruck des Geistes und Stils einer Epoche, ausschließlich als Ausdruck des Geistes einer Nation. Dieser Poesie-Auffassung entsprang die geistesgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft.
3.) als Objektivierung und Versinnbildlichung bestimmter Grundfragen des Welt- und Lebenssinns, wobei sie eine philosophische Fragestellung aufnimmt. Aus dieser von Hegel und Dilthey vertretenen Auffassung entwickelte sich die ideen- und problemgeschichtliche Methode der Literaturbetrachtung.
4.) als ausschließlich ästhetisches Kunstgebilde. Dabei stehen die künstlerische Gestaltung, Stil und Form der Sprache im Vordergrund.
5.) Eine weitere Richtung der Literaturbetrachtung geht von psychologischen Grundtypen der Dichter aus: Dichter, die der Objektivität des Seins, sei es als ideeller Wesensgesetzlichkeit (Klassik) oder als realer Tatsachenverknüpfung (Realisten, Naturalisten) zugewandt sind, oder Dichter, die auf die Innerlichkeit, die Welt der Seele, des Traums, der Phantasie gerichtet sind (Romantiker); ferner Dichter der gegenständlichen Bildhaftigkeit, Augendichter (Klassik) und Dichter des akustischen Reizes, des musikalischen Klanges, Ohrendichter (Romantik); sowie überwiegend intellektuelle Dichtertypen (Lessing) und überwiegend emotionale (Stürmer und Dränger, Romantiker, Expressionisten, Surrealisten).
Die Poesie kann auf verschiedene Schwerpunkte und Bedeutungen abzielen, um bestimmte Wirkungen zu erreichen wie beispielsweise Belehrung durch Beschreibung der Wirklichkeit (Lukrez) oder eine ethisch-religiöse Erziehung (Reformationsdrama, Barocktragödie). Wo sie derartige Ziele verfolgt und zugleich künstlerische Aspekte vernachlässigt, gerät sie zu einer rein moralischen, politischen oder konfessionellen Tendenzdichtung.
Auch soziologische Aspekte stehen bei einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung im Vordergrund. Dabei ist es entscheidend, wo sich Dichtung etablierte und für welches Publikum sie gedacht war. Der Dichter kann Gesellschaftsschichten angehören, die als solche mit Poesie gar nichts zu tun haben; er kann Ritter (Wather v.d. Vogelweide, Wolfram v. Eschenbach), Handwerker (Meistersinger), Gelehrter (Humanismus und Barock), Theologe und Pädagoge (Reformationszeit) oder Arbeiter sein, oder aber er ist von Beruf Dichter (Klopstock, Hölderlin, Romantiker).
Dem gegenüber stehen die DichterInnen als Originalgenies, als autonome SchöpferInnen des poetischen Gehalts, so besonders von Herder und dem Sturm und Drang gefeiert. Diese Isolierung des sich selber Form und Gestalt erschaffenden Dichtertums (SchöpferInnen von Privatmythen) kennzeichnet die Entwicklung vor allem des 19. und 20. Jhs. Dazu passend scheint die in der Zeit der Romantik aufgestellte These Jakob Grimms zu sein, die besagt, daß sich Volksdichtung und Kunstdichtung klar von einander unterscheiden. Im Volksepos (Homer, Nibelungenlied), Volkslied und Volksbuch (Eulenspiegel, Schildbürger) treten die DichterInnen hinter dem Inhalt ihrer Werke zurück, deren Gehalt sich über die Jahrhunderte einer beständigen Um- und Weiterdichtung erfreut, während in der neueren Zeit in der Poesie ein bewußtes Kunstwerk erschaffen wird, welches unmittelbar mit den individuellen Zügen der dichtenden Einzelpersönlichkeit verbunden bleibt.